Die statistische Lösung

Holger Kaiser war ein zufriedener Mann. Alles in seinem Leben war wohl geordnet und gefügt. Genauso schätzte es Holger!

Wenn er morgens aus dem Haus ging, um zu seiner Arbeit in der Verwaltung eines großen Kölner Versicherungskonzerns, zu fahren, dann stand seine Frau Stefanie an der Tür, gab ihm seine Thermoskanne, seine Butterbrotdose und einen Kuss auf die Wange.

Wenn er dann in der Regionalbahn saß und auf seinem Smartphone die aktuellen Statistiken zur Schadensabwicklung seiner Firma aufrief, seufzte Holger.

Das Leben war schön!

Es waren nur wenige Schritte vom Bahnhof zu seinem Büro. Er nahm stets den zweiten Aufzug von rechts, der ihn dann in die vierzehnte Etage fuhr. Dort befand sich der Arbeitsplatz von Holger. Als er an seinem Schreibtisch Platz nahm, die Stifte auf ihre korrekte Position schob und seinen Rechner hochfuhr, fing für diesen glücklichen Menschen der Arbeitstag so richtig an.

Holger war der führende Risikostatistiker seines Versicherungskonzerns. Ein Virtuose der Zahlen.

Immer wenn seine Lieblinge sich auf ihrem richtigen Platz befanden, dann war auch Holger zufrieden.

Die Mittagspause verbrachte der Statistiker stets an seinem Schreibtisch. Er verzehrte dann immer das Brot, welches seine Frau ihm mitgegeben hatte. Holger wäre zwar gelegentlich auch gerne mal in die Kantine gegangen, aber Stefanie meinte, dass sie viel Geld sparen könnten, wenn er ihre Brote äße. Ja, seine Stefanie war eine kluge Frau!

Nach dem Lunch gönnte sich Holger dann immer einen Kaffee aus dem Automaten. Stefanies Tee war zwar auch sehr lecker, aber einmal am Tag durfte es schon etwas anderes sein.

Seit einiger Zeit hatte Holger jedoch auch noch einen anderen Anlass, täglich einmal zu den Automaten zu schlendern. Direkt nebenan hatte Ulrike ihren Arbeitsplatz. Ulrike war Sachbearbeiterin für Schadensregulierung. An und für sich mochte Holger ja keine Ablenkung von seiner Routine, aber wenn Ulrike ihm ein herzliches Lächeln schenkte, dann wurde es ihm ganz blümerant. Der Rest des Tages verlief dann wie im Fluge.

Abends kehrte Holger dann immer zu seiner Doppelhaushälfte und zu Stefanie zurück. Wenn er dann eintraf, stand bereits das Essen auf dem Tisch. Sie erwartete ihn dann immer schon am Fenster, denn sie schätzte Pünktlichkeit. Ja, seine Stefanie war wie für ihn geschaffen! 

Meist gab es Hackbraten, Eintöpfe oder Nudelgerichte. Seine liebe Frau hielt das Geld zusammen. Eine weitere Eigenschaft, die er an ihr schätzte, auch wenn er meinte, sie sei ein klein wenig knauserig.

 

Dann kam der Betriebsausflug. Holger saß auf dem Ausflugsdampfer unter Deck. Er vermied die Sonne, denn er bekam immer so schrecklich schnell Sonnenbrand. Draußen feierten seine Kollegen heftig. Eine Kapelle spielte Tanzmusik und der Alkohol floss in Strömen. Holger genoss sein stilles Mineralwasser. Stefanie hatte ihn gemahnt, besser nicht zu trinken, denn er vertrug nicht sonderlich viel. Er hatte sich zum Zeitvertreib einige Wetterstatistiken und Forschungsberichte ausgedruckt. Die studierte er nun in aller Ruhe. Er war eben in eine wissenschaftliche Prognose der Klimaerwärmung vertieft, als Ulrike vor ihm stand. Neben einem unverschämt kurzen Rock trug sie auch zwei Sektgläser.

„Ach hier verstecken Sie sich, Herr Kaiser. Immer sind Sie fleißig!“

Noch bevor Holger sie bitten konnte, Platz zu nehmen, saß Ulrike neben ihm.

„Kommen Sie Herr Kaiser, immer schon wollte ich einmal ein Schlückchen mit Ihnen trinken!“, sie drückte ihm das Glas in die Hand. Sie stießen an und Holger spürte die perlende Flüssigkeit, wie sie ihm in Mund und Nase schoss. Er hustete.

„Sie sind ja ein ganz Süßer, Herr Kaiser!“, kicherte Ulrike, „Darf ich Sie um etwas bitten?“

Holger konnte lediglich nicken.

„Lassen Sie uns doch Brüderschaft trinken!“

Erneutes Nicken. Sie verschränkten umständlich die Arme und wieder klirrten die Gläser.

„Ulrike!“, flötete Ulrike und er brachte ein eher erbärmliches „Holger!“ hervor. Und dann, ja dann küsste ihn Ulrike. Während sich Holger noch von dem Schock erholte, denn außer seiner Mutter hatte er in seinem Leben bisher nur Stefanie geküsst, bemerkte Ulrike, dass ihre Gläser leer waren.

„Lauf nicht weg! Ich hole Nachschub!“ Schnell kehrte sie mit einem Sektkübel zurück und Holger befürchtete, dass es kein gutes Ende nehmen könnte.

Es nahm kein gutes Ende! Der reichliche Sekt, ihre nette Art zu plaudern und ihr Parfüm, alles an Ulrike betörte ihn. Stefanie legte nie Parfüm auf. Zu teuer, meinte sie, lediglich Kernseife. Und jedes Jahr zu Weihnachten durfte Holger ihr ein Fläschchen Kölnisch Wasser schenken. Als der Ausflug vorüber war, hatte Holger sich verliebt, in Ulrike aus der Schadensregulierung. Aber Stefanie durfte selbstverständlich nichts merken!

Doch natürlich merkte Stefanie etwas. Gleich nachdem er eingetreten, war stellte sie ihn zur Rede.

„Hat der Herr sich gut amüsiert?“

Holger konnte nur mit den Schultern zucken. Der Sekt hatte dem Abstinenzler tüchtig zugesetzt. Stefanie schnüffelte neugierig und Holger hoffte inständig, dass seine Fahne Ulrikes Parfüm überdeckte.

„Falschen Hasen willst du wohl auch keinen mehr, was?“

Wieder schüttelte Holger den Kopf und konnte ansonsten nur blöde aus der Wäsche schauen. Der Rest ist schnell erzählt. Wütend stapfte die Hausfrau in die Küche, nahm das Essen aus dem Ofen und warf es in den Abfalleimer. Dann stieg sie die Treppen hinauf und schmiss von oben das Bettzeug hinunter. Damit war der Abend beendet.

 

Obwohl sich Holger in der Folge redlich Mühe gab wieder in sein altes Leben zurückzukehren, wollte es nicht gelingen. Jeden Tag begegnete er Ulrike, die ihn sehnsuchtsvoll anschmachtete und jeden Abend kehrte er zu Stefanie heim, die ihn immer verdrießlicher stimmte. Selbst das Essen, welches er früher so geschätzt hatte, schmeckte nun fad. Stefanie würzte nicht besonders. Zum einen aus Sparsamkeit und zum anderen konnte sie stundenlang über die Schädlichkeit von Kochsalz referieren. So saß Holger am Esstisch und schaute traurig auf seine Kohlrouladen herab, die wohl wieder nur nach Kohl schmecken würden.

„Ist mit dem Essen etwas nicht in Ordnung?“, bemerkte seine Frau messerscharf.

„Nein, nein! Lecker wie immer, Schatz!“, versuchte er zu beschwichtigen. „Aber ich dachte, wir könnten uns doch auch mal etwas anderes gönnen! Nichts Besonderes, mal ein Braten vielleicht oder wir lassen uns etwas bringen!“

Stefanie schaute ihren Ehemann an, als ob er ihr eben erklärt hätte die Erde sei eine Scheibe.

„Weißt du was das kostet?“, fragte sie entgeistert, nahm ihre Serviette ab und holte sein Bettzeug aus dem Schlafzimmer.

Während Holger am nächsten Morgen im Zug saß, reifte bei ihm die Entscheidung. Der alte Raffzahn musste weg! Doch leider kam eine Scheidung nicht in Frage! Der Ehevertrag, auf den Stefanie seinerzeit bestanden hatte, würde ihn dermaßen schröpfen, dass ihm lediglich die Kleider an seinem Leib bleiben würden. Ermorden schied selbstverständlich ebenfalls aus. Zu so etwas war er gar nicht fähig! Doch was tun?

Als Holger dann an seinem Schreibtisch saß und seinen Computer hochfuhr, zeigte der Bildschirm die Lösung für all seine Probleme.

Zahl der Unfälle in Privathaushalten erneut gestiegen!, stand dort. Der Statistiker öffnete neugierig die Datei. Besonders Unfälle in der Küche hatten zugenommen. Aufwendigere Kochtechniken, neue Gerichte aus aller Herren Länder hätten den Anstieg zu verantworten. Holger recherchierte weiter, er wollte wissen, welches Gericht das größte Gefahrenpotential barg? Es sollte den ganzen Vormittag in Anspruch nehmen, bis er die passende Statistik gefunden hatte. Dann endlich flimmerte das Ergebnis auf seinem Bildschirm. PIZZA!

 

 

 

Die Staubentwicklung bei der Teigherstellung und die damit einhergehende Verpuffungsgefahr. Die Rutschgefahr auf dem Küchenboden, weil die ungeübten Pizzabäcker auf der Soße ausgleiten, von der Verbrennungsgefahr an den sehr heißen Öfen bis hin zu einer Unzahl an allergischen Reaktionen. In der eigenen Küche eine Pizza zu backen war mordsgefährlich!

Holger holte seine Lunchbox hervor. Missmutig schaute er auf Fleischwurstbrote, mit ihrem grauen Belag und die Käsebrote, deren Scheiben sich ihm entgegen reckten. Kurzerhand kippte er alles in den Papierkorb und ging hinüber zu Ulrike. Heute würde er mit ihr in der Kantine speisen. Ihm war nach Feiern zumute!

Abends setzte er seinen Plan in die Tat um. Während sie beide über einer geschmacksarmen Kartoffelsuppe brüteten, eröffnete er Stefanie, dass es ihn endlich einmal nach Abwechslung auf dem Speiseplan verlangte. Und noch bevor seine Gattin ihren Protest formulieren konnte, berichtete er von einer Gehaltserhöhung, was hieße, dass sie sich nicht in der Küche abmühen müsse, sondern die örtlichen Lieferdienste ihr Arbeit abnehmen könnten. Und um seinen Vorschlag zu untermauern, zog er einige Prospekte heraus, die er auf dem Heimweg vorsorglich gesammelt hatte.

Dass er in dieser Nacht wieder auf dem Sofa schlafen musste, störte ihn indes wenig!

Als er am folgenden Abend heimkehrte, bemerkte er befriedigt, dass seine Frau sich mit neuer Lektüre, verschiedensten Gerätschaften und sogar einigen neuen Zutaten eingedeckt hatte. Ganz sicher war er sich seiner Sache, als er die Quittung für einen Pizzastein auf dem Sekretär liegen sah. Jetzt brauchte er bloß noch abzuwarten.

 

Seine Geduld wurde nicht allzu lange auf die Probe gestellt. Er bemerkte gleich, als er um die Ecke bog, dass Stefani nicht, wie üblich am Fenster auf ihn wartete. Sein Herz schlug erwartungsvoll schneller, als er umständlich den Schlüssel ins Schloss schob. Holger legte gar nicht erst ab, sondern eilte gleich in die Küche. Dort lag seine Frau, mit weit aufgerissenen Augen und mit unappetitlich verdrehtem Kopf. Eine Scheibe Mozzarella war ihr zum Verhängnis geworden. Holger musste sich erst einmal beruhigen. Mit zittrigen Händen wählte er den Notruf 112 und mit tränenerstickter Stimme (daran hatte er lange geübt!), schilderte er, was er hier vorgefunden hatte. 

 

Die Trauerfeier fiel schlicht aus. So hatte es seine umsichtige Stefanie vorher verfügt. Ihr Geiz reichte über ihren Tod hinaus. Sechs Monate später, zog Ulrike bei ihm ein. Ein Jahr nach der Beerdigung heirateten die beiden. Drei weitere Monate danach kündigte Ulrike bei der Versicherung.

Jetzt, drei Jahre später, wiegt seine ehemalige Angebetete 115 Kilogramm, verprasst täglich Unsummen im Internet und Essen kommt ständig vom Lieferservice. Wenn Holger morgens seinen Rechner startet, schaut er immer nach den aktuellen Unfallstatistiken. Besonders Unfälle durch allergische Reaktionen haben es ihm angetan.

Ulrike verträgt keine Erdnüsse!