Die Sache um die zwei Scones

 

Zu den seltsamsten Fällen, die ich mit Sherlock Holmes erleben durfte, gehört zweifellos die Geschichte um die zwei Scones. Die Ereignisse spielten kurze Zeit nach den Vorfällen mit dem blauen Karbunkel und dem gesprenkelten Band.

 

Es war ein kalter Vorfrühling im Jahre 1892, als  ich bei meinem alten Freund Holmes saß und wir gemeinsam die Zeitungen studierten und Holmes mir einen Artikel aus dem Evening Standard vorlas.

 

„… wird der Gesandte Don Isidro del Partholon, mit dem Umweg über Edinborough, wieder in die spanische Heimat zurück kehren.“   

 

Ich legte die Times beiseite und entgegnete:

 

„Und das ist von Interesse, weil …?“

 

Mein Freund schaute mich an und entgegnete mit seinem unverkennbaren Lächeln:

 

„Weil der hochwohlgeborene Gesandte ein hintertriebener, politischer Schuft ist, der auch vor kriminellen Machenschaften nicht zurückschreckt. Erst im letzten Monat ist es mir gelungen einige seiner gedungenen Schergen dingfest zu machen, als sie versuchten, den Rubinring des schönen Prinz Charlie aus dem Tower zu stehlen, um so die schottische Sache zu unterstützen.“

 

„Dann ist es wohl ein Segen, wenn der Diplomat bald das Land verlässt!?“

 

„Wohl wahr!“, entgegnete Holmes und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Nur um kurz darauf zu bemerken, dass es Zeit für Tee sei.

 

Einige Augenblicke später kam Mrs. Turner die Stufen herauf und brachte uns ein Tablett mit Kanne, Tassen und einem Körbchen in dem kleine Gebäcke dampften. Dann verschwand sie wieder.

 

Holmes und ich blickten traurig erst uns an, dann auf die noch traurigeren Scones. Es verhielt sich nämlich folgendermaßen, immer wenn unsere treue Mrs. Hudson ihre Schwester in Kent besuchte, vertrat  Mrs. Turner sie hier in der Baker Street 221b. Ein wundervolles Arrangement. Die gute Mrs. Turner stand den Kochkünsten ihrer Cousine in Nichts nach. Die Backkünste hingegen ließen erheblich zu wünschen übrig. Besonders arg bei den Scones, die hier elendig auf den Verzehr warteten und nicht das Geringste mit jenen gemein hatten, wie Mrs. Hudson sie zuzubereiten wusste. Während die Prachtexemplare unserer Wirtin rund und voll daher kamen und unter ihrer glänzenden zarten Hülle mit in feinsten Whisky-Rosinen aufzuwarten wussten, waren jene dort nur farb- und kraftlos. Da vermochten auch die sahnigste Clotted Cream und die süßeste Blaubeermarmelade nichts mehr zu retten.

 

 

 

Wir hatten eben unsere dürftige Teezeit beendet, als  draußen vor dem Haus vernehmlich eine Kutsche zum Stehen gebracht wurde.

 

„Mir scheint, uns steht heute noch Abwechslung ins Haus“, bemerkte mein Freund lakonisch.

 

Eilig kam ein Mann die Treppe hinauf und trat, ohne zu klopfen, ein. Während ich unserem Besuch Mantel und Hut abnahm, schob Holmes einen Sessel nah ans Feuer, damit er sich aufwärmen konnte.

 

„Bitte nehmen sie Platz, Eure Lordschaft!“

 

Und während ich noch darüber nachgrübelte, wer unser geheimnisvoller Gast sein mochte, hatte mein Gefährte diese Frage offenkundig bereits gelöst.

 

„Mein lieber Watson, sei so gut und schenk‘ dem verehrten Duke of Norfolk doch bitte einen Sherry ein, um die Kälte zu vertreiben.“

 

Nachdem der Peer sein Glas mit einem knappen Nicken entgegengenommen hatte, erklärte er sich.

 

 „Meine Herren“, setzte er an, ohne den Stuhl zu beachten, „eine delikate Angelegenheit führt mich zu Ihnen. Wie Sie wissen, obliegt es seit Generationen meiner Familie, die Krönung des neuen Königs auszurichten. Mithin zeichnen wir auch für die Requisiten verantwortlich, welche in der Westminster Abbey für diesen feierlichen Akt aufbewahrt werden. Ich muss hoffentlich nicht die Bedeutung dieses herausgehobenen Amtes für das British Empire betonen!“

 

„Keinesfalls, Eure Lordschaft!“, entgegnete Holmes, der sich inzwischen wieder gesetzt hatte und bedächtig seine alte Tonpfeife stopfte. Als er diese Tätigkeit gewissenhaft beendet hatte, schaute er auf, um fortzufahren: „Darf ich vielmehr annehmen, dass es der Verlust eben einer dieser Requisiten ist, die euch hierher führt. Wenn ich es recht bedenke, ist Euch der Stone of Scone abhandengekommen. Und da es sich in dieser heiklen Angelegenheit selbstverständlich verbietet die Polizeibehörden einzuschalten, hieltet Ihr es für besser gleich bei mir vorzusprechen!“

 

Der Duke of Norfolk ließ sich nun doch in den angebotenen Sessel fallen und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas.

 

„Sie Teufelskerl! Da hat man mir nicht zu viel versprochen. Doch sagt, Mr. Holmes, woher wusstet Ihr dies alles. Habt Ihr Spione in der Kathedrale?“

 

Während mein Freund seine Pfeife entzündete, lachte er leise, um dann zu entgegnen:

 

„Aber nein, Eure Lordschaft. Vielmehr hat Euch der rote Staub an euren Rockschößen und an den Gamaschen verraten. Außerdem stand von einem Raub des Krönungssteins bislang nichts in den Gazetten, was mir zeigt, dass Ihr diesen etwas peinlichen Vorfall lieber im Stillen beizulegen gedenkt. Doch um das Rätsel zu lösen, wird es gut sein, wenn Ihr mir alles berichtet, was Ihr über das Verschwinden des Steins zu sagen wisst.“

 

Der Duke, der offenkundig mit seinen Nerven am Ende war, ließ mich einen weiteren Sherry reichen und berichtete von den Ereignissen der letzten Tage.

 

„Vor drei Tagen erreichte mich ein Brief. Als mein aufgebrachter Sekretär mir das Schreiben vorlegte, beschloss auch ich, Obacht walten zu lassen. Wurde doch der Diebstahl eben dieses Königssteins angedroht.

 

Wie Sie sich vielleicht denken können, meine Herren, konfrontieren mich meine zahlreichen politischen Verpflichtungen, sowie meine Mitgliedschaft im Kronrat ihrer Majestät, mit mannigfaltigen außergewöhnlichen Situationen.

 

So gelang es diesem Schriftstück nicht, mich in aufgeregte Stimmung zu versetzen. Zumal sich kein Absender zu erkennen gab. Daher war die einzige Vorsichtsmaßnahme, die ich in Betracht zog, lediglich die Abstellung zweier meiner Diener als Posten in die Kathedrale.

 

Als ich heute früh die Kirche betrat, um die Krönungsutensilien einer Inspektion zu unterziehen, fand ich diese zwei Männer tot“, ergänzte der sichtlich mitgenommene Peer seufzend.

 

Als Holmes diese Wendung vernahm, gab er seine bisherige zur Schau getragene Gelassenheit auf, legte die Pfeife beiseite und stand abrupt auf.

 

„Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren, Eure Lordschaft. Watson, unsere Mäntel!“

 

 

 

Als wir kurz darauf in der Westminster Cathedral ankamen und im Schrein des heiligen Edward dem Bekenner standen, sahen wir mit eigenen Augen, wovon der Duke bisher nur berichtet hatte. An einem Tisch saßen die beiden Diener, ganz so, als ob sie eben beim Tee wären. Nur, dass jegliches Leben diese Männer verlassen hatte. Der Krönungsthron war ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Der Stuhl, auf dem seit Jahrhunderten die Könige des Empire ihre Krone aufgesetzt bekamen, stand nur noch windschief und ohne den roten Sandstein in seiner Nische.

 

Und während mein Freund schon in seine Untersuchungen vertieft war, fiel mein Blick auf den Tisch an dem die Toten, mit zur Seite gekippten Köpfen hockten. Inmitten des benutzten Teeservices stand ein Teller, über und über mit verführerischen Scones bestückt. Jene Scones, wie Holmes und ich sie von der guten Mrs. Hudson über die Maßen schätzten. Die mit Rosinen!

 

Auch Holmes schien die leckeren Häppchen ins Auge gefasst zu haben und wollte eben ein Gebäck mit seinen schlanken Fingern stibitzen, allein, um von der Enttäuschung der nachmittäglichen Teestunde abzulenken, als einige Diener weitere Laternen und Kandelaber hereinbrachten, die er sich ausgebeten hatte.

 

Eben wollte der Mann, mit dem ich unzählige Abenteuer bestanden hatte, wohl herzhaft zubeißen, als ich ihm den Scone mit Hilfe meines Gehstockes und einer gepflegten Rückhand, die diesen neumodischen Lawn-Tennis Spielern draußen in Wimbledon zur Ehre gereicht hätte, aus der Hand schlug.

 

Die zusätzliche Beleuchtung hatte etwas ins Licht gerückt, was mein Freund vorher nur schwerlich hatte erkennen können. Die beiden Pagen waren kreidebleich! Ein untrügliches Zeichen für eine Vergiftung mit Arsenit oder einem ähnlich wirkenden Teufelszeug.

 

Nachdem sich Holmes von dem kurzen Schrecken erholt hatte, trat er an meine Seite und legte mir die Hand auf die Schulter.

 

„Da stehe ich ein weiteres Mal in deiner Schuld, alter Junge!“

 

Was nicht der Rede wert war. Hatte mein Freund doch mein Leben und auch das meiner lieben Marie seinerseits unzählbar häufig vor dem Schlimmsten bewahrt.

 

Doch Sherlock Holmes war niemand, der sich durch die Bedrohung seines Lebens von der Lösung eines Rätsels abhalten ließ. Dank der nun besseren Illumination machte sich der Meister der Deduktion erneut ans Werk.

 

Gründlich nahm er die Umgebung ein weiteres Mal unter die Lupe. Schließlich gesellte sich Holmes wieder zum Duke und zu mir, die wir gebannt seine Inaugenscheinnahme verfolgt hatten.

 

„Eure Lordschaft, es ist noch nichts verloren!“, eröffnete er nüchtern, ganz so als ob er einen Zeitungsartikel vorlesen würde.

 

„Ich empfehle, einige Männer zur Euston-Station zu schicken. Im Abendzug nach Edinborough werden sie den spanischen Gesandten Don Isidro del Partholon in der ersten Klasse antreffen. In seiner Brieftasche wird sich eine Quittung befinden, die über ein Schwerlastfrachtgut ausgestellt wurde. In dieser Frachtkiste, die sicher im Postwagon desselben Zuges untergebracht sein wird, befindet sich der vermisste Stein, Mylord.“

 

Ich war so erstaunt, wie stets, wenn mein Freund seine Schlussfolgerungen präsentierte, aber auch der Duke of Norfolk war von dem dargebrachten Ergebnis einigermaßen fassungslos.

 

„Werter Mr. Holmes, ihr unbestrittener Scharfsinn steht außer Zweifel, aber wie in drei Teufels Namen sind Sie ausgerechnet auf einen drittklassigen spanischen Gesandten gekommen?“

 

Es oblag meinem alten Freund wieder einmal, einen Einblick in seine unnachahmlichen Fähigkeiten zu gewähren. Und immer, wenn er das zu tun pflegte, atmete Sherlock Holmes tief durch und ließ seinen Atem mit einem seufzerähnlichen Laut entweichen.

 

„Geschätzter Duke of Norfolk, es ist ein Leichtes, vorhandene Teile zu einem stimmigen Mosaik zusammenzufügen, wenn man nur die Einzelheiten nicht aus den Augen verliert. Als mein treuer Freund mir vor wenigen Augenblicken vermeintlich das Leben zu retten glaubte, war ich lediglich im Begriff durch einen tiefen Atemzug die Aromen dieses Gebäcks in mich aufzunehmen, welches ich gleich als Mordwaffe identifiziert hatte. Und als der treue Watson mir den Scone aus meiner Hand schlug, war diese Untersuchung bereits abgeschlossen. Mithin gelang es mir, die Ingredienzien zu analysieren, speziell der Whisky, in dem die Rosinen eingelegt waren, führte mich weiter. Es war in jedem Fall ein schottisches Destillat, ein 24 Jahre alter Glenturret Single Malt, dessen Brennerei unweit von Perth liegt und welcher ausschließlich in der Umgebung der einstigen schottischen Krönungsstätte, verkauft wird. Daher lag der Schluss nahe, dass die Separatistenbewegung der Scotisten, wie sich selbst nennt, ihre Finger im Spiel hat. Blieb noch das verwendete Gift. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich hierbei und Arsen handeln mochte, so wie es der gute Watson bestimmt auch bereits vermutet hat. Aber durch die bessere Beleuchtung, für die Ihr dankenswerterweise Sorge getragen hattet, Eure Lordschaft, fiel mir die besondere Blässe auf, welche die bedauerlichen Opfer dort aufweisen. Schnell kam ich zu dem Schluss, dass es sich nur um Cantarella handeln konnte. Ein altes Arsenderivat, welches sich besonders in Spanien besonderer Beliebtheit erfreut. Das, auch als Borgiagift, bekannte Toxikum führte somit zwangsläufig zu einem spanischen Diplomaten, der sich schon geraume Zeit in London aufhält und der nachweislich in Verbindung zu anderen Verbrechen rund um die schottische Separation steht. Alles andere entnimmt man der Zeitung“, endete Sherlock Holmes seine Schlussfolgerungen und hinterließ den Peer und mich in atemlosem Staunen.

 

 

 

Als wir am nächsten Tag zur Teestunde die Zeitungen nach Hinweisen auf unseren letzten Fall absuchten, erwartete uns eine Überraschung. Denn die gute Mrs. Hudson war zu uns zurückgekehrt. Als sie uns den Tee servierte, durften selbstverständlich ihre berühmten Scones nicht fehlen. Umso betretener schaute sie, als sie später alles wieder abräumte. Weder Holmes, noch ich hatten auch nur eines der kleinen Brötchen angerührt. Nach der Sache mit den beiden Scones war uns der Appetit erst einmal gründlich vergangen.