Das kleine Weihnachtsgeld

Als der Buchungsvorgang abgeschlossen war und das kleine Weihnachtsgeld auf dem Konto seines neuen Eigentümers eintraf, war es erst einmal verwirrt. All die neuen Eindrücke, all die vielen Zahlen und vor allem die fremde Umgebung.

 

 

 

Nachdem sich das kleine Weihnachtsgeld einigermaßen zurechtgefunden hatte, schaute es sich um. Schüchtern, denn er war ganz winzig und alles um ihn herum wirkte so riesig. Und ja,und irgendwie auch einschüchternd.  

 

 

 

Aber das kleine Weihnachtsgeld war auch ein bisschen neugierig. Daher überwand es seine Furcht und machte sich auf, seine Umgebung zu erkunden.

 

 

 

So verließ es sein Konto, überlegte kurz und wandte sich nach links. Vorbei an Buchungsvorgängen, Obligationen und Zinsverschreibungen.

 

 

 

Als erstes traf es auf Einen, der ein wenig so ausschaute wie er selbst. Nur größer und sehr beeindruckend. Das kleine Weihnachtsgeld hüpfte von einem Bann auf das andere und überlegte, was zu tun sei. Doch schließlich fasste er sich ein Herz und sprach den Großen an.

 

„Hallo! Ich bin das kleine Weihnachtsgeld. Wer bist denn Du?“

 

Der Angesprochene spielte verliebt mit seiner goldenen Taschenuhr, bevor er irritiert auf seinen kleinen Besucher hinabschaute.

 

„Ich?“, entgegnete er ein wenig brüskiert. „Ich bin eine Weihnachtsgratifikation! Eine finanzielle Belohnung für gute Leistungen gewissermaßen. Im kommenden Weihnachtsfest werde ich zu einer Playstation mit Soundsystem, damit die Kiddies das Neueste haben.“

 

Dann blickte er wieder auf seine goldene Uhr und hatte seinen kleinen Besucher bereits wieder vergessen.

 

 

 

Verwirrt zog das kleine Weihnachtsgeld weiter. Bald schon traf er auf einen Buchungsposten, der noch größer und noch beeindruckender daherkam. Der schmauchte versonnen an einer riesigen Zigarre. Das kleine Weihnachtsgeld war nun schon ein wenig mutiger und traute sich gleich den Großen zu fragen:

 

„He, Du da! Ich bin das kleine Weihnachtsgeld. Wer bist Du?“

 

Der große Kerl zog kräftig an seiner Havanna und atmete den Rauch aus, während er antwortete. „Das fragst Du Wicht? Ja, weißt Du denn nicht, wer ich bin? Ich bin das vierzehnte Monatsgehalt, aber bald schon werde ich zu einer Nordkap-Kreuzfahrt. Und nun troll dich!“, sprach es und blies ihm Zigarrenqualm ins Gesicht.

 

 

 

Das war schon alles sehr seltsam, befand das kleine Weihnachtsgeld ein wenig traurig und zog weiter. Vorbei an Tagesgeld- und Sparkonten, die still vor sich hin vegetierten. Oder an Aktienfonds, die durch ihr ständiges auf und ab vollkommen desorientiert durch die Buchungsspalten irrten. Das war schon ein seltsamer Ort. Schließlich traf das kleine Weihnachtsgeld auf einen edlen Recken, der sein langes güldenes Haar im Licht der bunten Diodenlämpchen bürstete. Er war dermaßen entrückt, dass er das kleine Weihnachtsgeld gar nicht bemerkte. Doch es gab nicht auf, rief, schrie und hüpfte unentwegt auf und ab. Da endlich wurde das kleine Weihnachtsgeld bemerkt. Unwirsch blickte der Hüne auf den Störenfried hinab. „Was störst Du mich? Siehst Du nicht, dass ich mein güldenes Haar bürste?“

 

„Doch schon …“, entgegnete das kleine Weihnachtsgeld schüchtern, „ … aber ich würde zu gern wissen wer Du bist?“

 

Der Blondgelockte schaute amüsiert auf seinen kleinen Besucher hinab und antwortete grinsend: „Ja kennst Du mich denn nicht? Ich bin die Managerprämie. Ich werde immer ausgezahlt, ob verdient oder nicht und in diesem Jahr werde ich zu einer Brust-OP. Damit endlich wieder ordentlich Wind in der Bluse weht! Doch wenn Du schon mal da bist, wer bist denn Du, du kleiner Kerl?“  

 

„Ich?“, antwortete das kleine Weihnachtsgeld vollkommen überrascht, „Ich bin nur ein kleiner verirrter Buchungsposten, auf der Suche nach meiner Kontierung.“  

 

„Dann stör mich nicht weiter, Kleiner! Ich muss mich vorbereiten. Bald schon ist es soweit und ich muss los.“, und kümmerte sich wieder um sein herrliches Haar.

 

 

 

Da war das kleine Weihnachtsgeld vollends traurig und kam sich ganz erbärmlich vor. All diese großen Zuwendungen und er nur so ein kleiner Mickerling. Bestimmt würde sein Besitzer sich seiner schrecklich schämen, wenn er ihn auf dem Auszug entdeckte. Und was nur aus ihm werden sollte? Bedrückt kehrte er auf sein kleines Konto zurück.

 

 

 

Doch dort waren die Überweisungen bereits vorbereitet. Für die Kinder gab es Spielzeug, ein Einhorn für das kleine Mädchen und ein Lego-Bausatz für den Buben. Für die Ehefrau würde es einen Schal geben. Den hatte sie sich schon so lange gewünscht. Denn ihr war immer so kalt um den Hals, wenn sie des Morgens zur Arbeit ging. Und weil der Besitzer des kleinen Weihnachtsgeldes seine kleine Frau so sehr liebte, legte er noch eine Packung mit bunten Servietten oben drauf. Darüber freute sich die Gute immer ganz besonders. Den Rest des Geldes spendete die kleine Familie immer. Denn sie hatten genug und es gab so viele, die nicht so viel Glück hatten wie sie selbst.

 

 

 

Dann wurden die Überweisungen getätigt und das kleine Weihnachtsgeld wurde in alle Winde zerstreut. Aber das machte dem kleinen Weihnachtsgeld überhaupt nichts aus, hatte es in seiner kurzen Lebenszeit doch so viel Spannendes erlebt und so ein Glück mit seinem Besitzer gehabt.

 

 

 

Und in dem Moment, als das kleine Weihnachtsgeld wieder in dem riesigen Geldstrom überging, der die Welt mehrmals täglich umkreist, in diesem winzigen Augenblick, kurz bevor seine Existenz endete, konnte das kleine Weihnachtsgeld einen Blick in die Zukunft werfen. Und es sah, wie all seine großen und starken Brüder ihre Bestimmung erhielten.

 

 

 

Die Weihnachtsgratifikation, die zu einer Spielekonsole geworden war, aber von den Kindern, die sich daran erfreuen sollten, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde, weil sie viel zu sehr mit ihren Handys beschäftigt waren.

 

 

 

Oder das vierzehnte Monatsgehalt, was für eine Kreuzfahrt in den Norden bestimmt war. An diesem Gabentisch herrschte ebenfalls keine gute Stimmung, denn die Ehefrau wäre viel lieber auf die Malediven gefahren.

 

 

 

Doch am schlimmsten traf es den Besitzer der Managerprämie. Als die junge Frau sich die Brüste machen ließ, verliebte sie sich in den behandelnden Chirurgen und weil der sie so liebreizend fand, richtete er ihr noch gleich die Nase und dann brannten sie gemeinsam durch. So saß der Mann am Heiligen Abend allein vor dem Fernseher und schaute Pornos.

 

 

 

Da seufzte das kleine Weihnachtsgeld selig. Es hatte es gut getroffen, befand es und löste sich zufrieden auf …